Denkschrift

Losverfahren in der Demokratie

In einem modernen Gemeinwesen müssen zahlreiche Entscheidungen getroffen werden. Manche davon haben eine große Bedeutung für Leben und Wohlergehen von vielen Menschen. Daher ist es von zentraler Bedeutung, wie und durch wen diese Entscheidungen getroffen werden. Die Politik steht heute vor historischen Herausforderungen. Krisen häufen sich und nehmen teilweise existenzbedrohende Ausmaße an, beispielsweise die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen.

Die traditionellen demokratischen Institutionen waren in den letzten Jahrzehnten offenbar nicht in der Lage, die großen Fragen der Zeit wirklich zu beantworten. Die Umweltzerstörung schreitet voran, ebenso wie die wirtschaftliche Ungleichheit und der Weltfrieden scheint so fragil wie schon lange nicht mehr. Und dies, obwohl die tonangebenden Länder, allen voran die USA, größtenteils formal Demokratien sind.

Institutionen

Wenn die Interessen der Bevölkerung in Demokratien so schlecht gewahrt werden liegt dies möglicherweise an ungeeigneten Institutionen. Zeit also, Neues auszuprobieren. 

Ein sehr altes Verfahren, das gerade eine Renaissance erlebt, ist die Besetzung von Gremien und Ämtern per Los. Auch wenn es erst mal sehr befremdlich klingt, wichtige Entscheidungen von zufällig ausgewählten Menschen treffen zu lassen oder gar bei der Besetzung verantwortungsvoller Positionen auch dem Zufall einen Platz zu geben könnte diese Methode doch ungeahnte Möglichkeiten für die dringend nötige Erneuerung der Demokratie bieten. 
In der Vergangenheit, z.B. im klassischen Athen und den italienischen Stadtrepubliken Florenz und Venedig hat das Losen in der Politik eine lange Tradition. Dabei sollten mit dieser Methode unterschiedliche Ziele erreicht werden.

Funktionen des Losens

Losentscheide haben eine befriedende Wirkung und können die Konflikte, die bei der Besetzung angesehener Positionen auftreten können, minimieren. Für unterlegene Bewerber:innen in einem Verfahren, das wenigstens teilweise vom Zufall bestimmt wird, ist die Niederlage leichter und ohne Gesichtsverlust zu verkraften. Während diese Funktionen bereits in den italienischen Stadtrepubliken mit dem Los verbunden waren, zeigen neuere Untersuchungen auch, dass z.B. Frauen von Wettbewerben mit nur einem Gewinner eher entmutigt werden. Wenn auch der Zufall für die Besetzung eine Rolle spielt bewerben sie sich eher [ Berger et al (2020a) ]

Eine wichtige Funktion des Losens war bereits in der Antike die Verhinderung von Korruption. Gezielte Einflussnahme wird sehr erschwert, wenn nicht von vorneherein feststeht, wer eine Entscheidung trifft. Ausgeprägter Lobbyismus sorgt heute bei vielen Bürgern für Unmut. Insofern wäre es eine Überlegung wert diesen Einfluss mit Hilfe des Loses zurückzudrängen. 

Repräsentation

Gewählte Gremien wie z.B. Parlamente sollen die Menschen repräsentieren, von denen sie gewählt wurden und in deren Namen Entscheidungen treffen. Allerdings weicht die Zusammensetzung von Parlamenten in Bezug auf Merkmale wie z.B. Beruf, Einkommen und Geschlecht deutlich von der Gesamtbevölkerung ab. Durch die Möglichkeit der Wiederwahl wird die Möglichkeit zur Sanktionierung  durch die Wähler:innen erhöht. Gleichzeitig besteht aber die Gefahr, dass Personen, die viele Jahre ihres Berufslebens nur in der Politik verbringen, den Bezug zu den Lebensumständen der Bevölkerung verlieren.

Eine Untersuchung im Rahmen des Armuts- und Reichtumsberichts 2017 ergab, dass die Responsivität (die Bereitschaft, auf die Interessen einzugehen) des Bundestages mit dem Einkommen variiert. In diesen Untersuchungen wurde nachgewiesen, dass Ideen um so geringere Chancen haben, umgesetzt zu werden, je niedriger das Einkommen der Befürworter ist [ Elsässer et al (2016) ]. Hier wäre es interessant zu erfahren, ob geloste Gremien in ihren Entscheidungen eine bessere Responsivität für diese Gruppen erreichen könnten. Minderheiten und benachteiligte Gruppen haben ja bei gelosten Gremien eine ihrem Bevölkerungsanteil entsprechende Chance der Teilnahme und sind damit stärker vertreten als bei gewählten Gremien. 

Zusammensetzung und Diskussionskultur

Vielleicht ist aber die bessere Repräsentativität auch gar nicht der entscheidende Faktor. Zufällig zusammengesetzte Gremien mit guter Moderation haben eine ganz andere Diskussionskultur als gewählte. Erfahrungen auf kommunaler Ebene, z.B. mit Planungszellen (deren Repräsentativität aufgrund der geringen Teilnehmerzahl ohnehin begrenzt ist) aber auch auf der Ebene ganzer Staaten wie bei den Verfassungsänderungen in Irland lassen erahnen, dass mit Hilfe von Versammlungen aus zufällig zusammengesetzten Bürgern Lösungen für Probleme erarbeitet werden können, die im Rahmen der üblichen Politik nahezu unlösbar erscheinen oder zumindest seit langer Zeit schon auf eine Lösung drängen, ohne dass diese in greifbare Nähe rücken würde.

Ausgleich und Meinungsänderung

 In unserer Gesellschaft macht sich eine zunehmende Spaltung bemerkbar. Menschen bewegen sich, vor allem in den sozialen Medien, in einer Filterblase, in die nur bestimmte Nachrichten und Meinungen Eingang erhalten. Es ist aber möglich, dass Menschen unter geeigneten Bedingungen aus einer solche Blase herausfinden und sich auch mit gegenteiligen Meinungen auseinandersetzen. Durch die große Heterogenität geloster Gremien bieten sich hier Möglichkeiten zum Austausch zwischen verschiedensten Gruppen wie sie sonst in unserer Gesellschaft kaum zu finden sind. 
Anders als bei Umfragen geht es also nicht um die Abfrage spontaner Meinungen. Außerdem sind geloste Gremien nicht in dem Maße dem Druck widerstrebender Einzelinteressen ausgesetzt wie für lange Zeit gewählte Mandatsträger. Gleichzeitig sind die Teilnehmer aber von den vorgeschlagenen Maßnahmen in ähnlicher Weise betroffen wie die Gesamtbevölkerung und daher daran interessiert, dass die Konsequenzen der Maßnahmen tragbar sind. 

Kombination

Losverfahren lassen sich auf unterschiedliche Art mit anderen Auswahlverfahren kombinieren. Daher kommen sie auch für die Besetzung von Positionen in Betracht, die ein hohes Maß an Kompetenz erfordern. Hier stehen Funktionen wie die Vermeidung von Korruption, und die  Befriedung des Auswahlprozesses im Vordergrund. Das Los kommt hier erst nach einer Vorauswahl der Bewerber:innen zum Zuge. Neuere Untersuchungen [ Berger et al (2020b) ] legen nahe, dass Funktionäre, bei denen Glück sichtbar eine Rolle bei der Auswahl gespielt hat mit ihrer Verantwortung anders umgehen würden und weniger zu Selbstüberschätzung neigen als klassisch ausgewählte Bewerber:innen.

Anwendungen

 Das Losen zur Vergabe von Ämtern und Besetzung von Gremien ist gerade erst wiederentdeckt worden. Die Anwendungsmöglichkeiten des Losens in der Politik sind außerordentlich vielfältig. Mit dem vom Bundestag in Auftrag gegebenen Bürgerrat zum Thema „Deutschlands Rolle in der Welt“ sowie den seit langem schon angewandten Planungszellen auf lokaler Ebene hat das Thema bereits Einzug in die deutsche Politik gehalten. Mit Sicherheit gibt es aber noch viel mehr Anwendungsmöglichkeiten. Auch über verbindliche Entscheidungen durch geloste Gremien, die bislang nur beratende Funktion haben, muss nachgedacht werden. Der Einsatz des Losens bei der Bestellung von Ämtern steckt noch nicht mal in den Kinderschuhen. Unter welchen Umständen Losverfahren die Demokratie bereichern können, wo sie den Wahlen als Auswahlmethode überlegen sind und in welchen Fällen ihr Einsatz ggf. auch nicht sinnvoll ist muss erst noch herausgefunden werden. 

Notwendigkeit zum Handeln

Der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft, den Ohnmachtsgefühlen der Bürger und der zunehmenden Politikverdrossenheit lässt sich nur mit neuen Ideen entgegenwirken. Die Demokratie muss sich erneuern, soll sie eine Zukunft haben. Zu dieser Erneuerung könnten Losverfahren wichtige Beiträge leisten. Wir möchten mit unserer Veranstaltung Mut machen. Wir möchten die Diskussion über Losverfahren und ihre Erprobung in der Praxis anregen. Wie groß das Potential ist kann nur weitere Forschung und Mut zu weiteren Experimenten zeigen.

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